Von Bologna, Pisa, dem Ende der Didaktik und Omega-3

Als ich mit dem knappst möglichen Prüfungsdurchschnitt ins Gymnasium aufgenommen war, begann meine eigentliche Wanderung durch die Landschaft der Bildung. (An anderer Stelle habe ich dazu geschrieben.) Ich war enorm beeindruckt vom alten Gebäude, in welchem schon Albert Einstein und Werner Arber, die späteren Nobelpreisträger, zur Schule gegangen waren. Ich hatte schlaflose Nächte vor den Prüfungen in Mathematik, wurde von Ängsten geplagt, auf die Fragen des zynisch-ironischen Deutschlehrers nicht antworten zu können, machte mich klein unter dem gestrengen Blick des Geschichtslehrers, weil ich dachte, seinem Bild von uns als „Elite des Kantons“ nicht genügen zu können. Ich litt – und war gleichzeitig stolz, überhaupt am Gymnasium sein zu dürfen, auf der Schwelle zur faszinierenden Welt des Wissens stehen zu können, deren Türe uns, so kam es mir vor, die Professoren eröffneten.

Mit ähnlichen Gefühlen schrieb ich mich später an der Universität ein, denn ich wusste: jetzt werde ich es mit wahren Geistesgrössen zu tun bekommen. Noch waren die Zeiten anders: Ich brauchte so und so viele Seminarien und Proseminarien zu bestehen (was hiess, so und so viele Arbeiten zu verfassen und diese als Vorträge zu halten, ohne Powerpoint selbstredend, nur mit den Mitteln des „wirkenden Worts“), ein paar wenige Pflichtvorlesungen zu belegen – die restliche Zeit war frei. Was hiess: Ich belegte Vorlesungen in Bereichen, die mich nebst meinen Haupt- und Nebenfächern auch noch interessierten: in Physik (Walter Heitler!), in Philosophie (Gerhard Huber!), in Anatomie (!), Psychologie, Geschichte der Mathematik zum Beispiel.

Studieren hiess: sich den Studiengang hauptsächlich selber organisieren, Zeit haben zum Lesen, Diskutieren, Schreiben. Man konnte sich im Kino Filme ansehen, in den Semesterferien einem Nebenverdienst nachgehen, seine Hobbys pflegen.

Ein dreiviertel Jahr verbrachte ich reisend in Frankreich, um Land und Leute kennen zu lernen und um die Sprachkenntnisse zu vertiefen; meine Lizentiatsarbeit schrieb ich zu einem guten Teil im Cannes der herbstlichen Nachsaison.

Nach fünf Jahren herrlich freien Studierens war ich fertig und trat als gewählter Lehrer meinen Dienst an einem Gymnasium an.

Heute ist alles anders. PISA und BOLOGNA meint mehr als nur diese wunderbaren italienischen Städte, man redet und schreibt von Bildungskatastrophe, Standardisierung, Kompetenzorientierung. – Ich beneide die jungen Menschen nicht, die sich unter heutigen Bedingungen bilden lassen müssen. Erst recht nicht diejenigen, die sich bilden lassen wollen. Denn offensichtlich geraten sie in eine Art Bildungsmühle, werden laufend nach irgend welchen Standards geprüft, können ihren eigenen Interessen erst spät im Studium, wenn überhaupt, nachgehen. Das clevere Sammeln der Credits leitet sie dem Vernehmen nach an, nicht mehr das Interesse für diese Vorlesung oder jenes Seminar. Mein Patenkind, eine seinerzeit fürs Studium hoch motivierte, mittlerweile 25-jährige frustrierte Studentin, hat sich vor einem Jahr so geäussert: „Weisch, Götti, ich ha überhaupt kei Ziit zum Läse. Vor luuter Literaturtheorie chum ich nid dezue, die Büecher, wo mer beschpräche, äu l’läse.“ („Weisst du, ich habe keine Zeit zum Lesen. Vor lauter Literaturtheorie komme ich nicht dazu, die Bücher, die wir besprechen, auch zu lesen.“) Sie studiert Romanistik. Und wird bald Gymnasiallehrerin sein.

An all das muss ich denken, wenn ich Konrad Paul Liessmanns Streitschrift Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung lese. Und wenn ich ihn dazu im Interview erlebe. Oder seine Artikel lese (deren einen, „das Verschwinden des Wissens“, ich besonders erwähnen möchte).

An all das denke ich auch, wenn ich die folgende Grafik sehe, die mir gestern unter die Augen gekommen ist (Quelle: NZZ am Sonntag):

Und daran denke ich, wenn ich mir die Folien ansehe, die Philippe Wampfler für sein Referat unter dem Titel „Das Ende der Didaktik. Wie Smartphones schulisches Lernen revolutionieren“ an der diesjährigen DIDACTA in Basel gestaltet hat.

Worauf hin soll jetzt der Mensch eigentlich gebildet werden?
Meine Lieblingsfrage.
Wie soll Bildung formal geschehen und inhaltlich ausgestaltet werden?
Wenn Omega-3 eine solch bildende (Zusatz)Wirkung hat, wie ist das dann mit Mango zB.?

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