Im Gymnasium war alles fundamental anders und neu. Schultäglich musste ich in die Stadt fahren, im Sommer mit dem Fahrrad, im Winter mit dem kleinen Lokalzug. Zum ersten Mal verspürte ich Ehrfurcht beim Betreten eines Schulhauss, hier des alten Gebäudes, in dem schon Albert Einstein zur Schule gegangen war. Ich hatte Angst vor einzelnen Professoren – Frauen waren nicht darunter –; die ersten schlaflosen Nächte wurden Tatsache.
Der Geschichtslehrer sagte uns Jünglingen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung mindestens jeden Monat einmal: „Meine Herren, Sie müssen sich bewusst sein, dass Sie der Elite des Kantons angehören; ich erwarte, dass Sie Ehre einlegen für das Gymnasium!“ Der Professor für die mathematischen Fächer erwartete, dass wir uns zu Beginn jeder Stunde erhoben, wenn er ins Zimmer trat. Der Deutschlehrer, hoch gebildet, schmal, Brille mit Goldfassung, liess uns mittels der feinsten Waffe der Verachtung, die er zur Verfügung hatte, spüren, wie unendlich weit entfernt wir von dem waren, was er unter Bildung verstand: mit Ironie. Sanft lächelnd, stellte er uns bloss, so dass ich sogar vor dem Fach Deutsch Qualen litt und den ersten Aufsatz mit angeblichem Fieber schwänzte.
Die ganze Gymnasialzeit hindurch war der Unterricht für mich auch nie langweilig, obwohl er von Männern erteilt wurde, die nur eine einzige Methode kannten: den Frontalunterricht, und die zum Teil gezielt mit unseren Ängsten spielten. Warum? Ich wollte unbedingt die Welt des Wissens entdecken und war mir bewusst, dass dieses Wissen, nach dem ich lechzte, in den Köpfen dieser Herren sass und in den Büchern, die sie uns kaufen und lesen liessen. Ich war, modern gesagt, ganz offensichtlich intrinsisch motiviert – und ermutigt durch die Lebensläufe berühmter Physiker, die ich in der Freizeit mit Inbrunst las. Ich wollte werden wie die Heisenbergs, die Bohrs und Fermis dieser Welt!
Im Gymnasium hätte ich mich ohne sie schlicht abgeschnitten gefühlt von den Quellen des Wissens; indem sie uns Wissen als Stoff darboten respektive uns Lese- und Lernaufgaben stellten, erahnte ich – dem Mann vom Lande in KafkasParabel Vor dem Gesetz ähnlich – etwas von diesem Faszinosum, das zu entdecken ich mir vorgenommen hatte. Die Art und Weise ihrer Darbietungen, die Didaktik, war mir egal. Wichtig war nur, dass sie mir Zugänge zum Gesetzaufschlossen und ich mein Leben nicht mit Warten zubringen musste wie der erwähnte Mann. Ich ging zur Schule, war häufig überfordert (was mich an ein Diktum von @jeanpol auf Twitter erinnert, bezogen auf die Arbeit der Lehrpersonen im Klassenzimmer: „Fordern. Fordern. Fordern!“ – ein Diktum, das ich voll und ganz unterschreibe), biss mich aber durch und erlebte an der Abiturprüfung, dass ich den Anforderungen mehr als nur gewachsen war. Ja: Die Freude am Wissenwollen hatte sich vertieft, meine Neugier war gewachsen.
Wozu sind Lehrpersonen da? – Vielleicht auch, um den Lerngegenständen das Geheimnis, das sie in sich bergen, zu lassen beziehungsweise zurückzugeben?