Anna, die Schule und der liebe Gott – Teil 5 und Schlussfazit

Precht wird in den letzten Kapiteln seines Buches konkret. Nach eher allgemeinen Überlegungen zu Bildung und Lernen zieht er jetzt die Konsequenzen aus den Befunden, vergleicht einmal mehr das Haben und das Soll und formuliert, wie aus dem unbefriedigenden, ja kranken Zustand des  Bildungssystems Deutschland etwas werden könnte, das zu nachhaltigem, motivierendem, Lust machendem und selbstwirksamem Lernen am Leben einladen würde.

Genannt werden auf einer ersten, unterrichtspolitischen Ebene: das Projektlernen, das Unterrichten im Team, der Einbezug von „Lehrern aus dem Leben“ (Beispiel.: der pensionierte Physiker am CERN unterstützt – nach einem „pädagogischen Schnellkurs“ – die „konventionell ausgebildete“ Physiklehrkraft), die Ersetzung der Ziffernnoten durch „dreidimensionale Bilder der Persönlichkeit“ eines Schulkindes, durch „längere schriftliche Beurteilungen eines Lern- und Entwicklungswegs“ sowie „ein besserer Rahmen und ein im Schnitt besseres Personal als heute.“

Bessere Schulen beruhen gemäss Precht dann auf zehn Prinzipien, einem „Fundus an miteinander verknüpften Anregungen. Einem Selbstbedienungsladen, wenn man so will, für aufgeklärte Pädagogen, Schulleiter und Schulentwickler.“ – Diese Prinzipien wurden ja bereits vor Erscheinen des Buches in der ZEIT abgedruckt und haben schon  heftige Reaktionen hervorgerufen. – Es gilt:

  • die intrinsische Motivation eines Kindes zu pflegen
  • das Kind individuell lernen zu lassen
  • die Welt des Wissens fachübergreifend in ihren Zusammenhängen verstehbar zu machen
  • jahrgangsübergreifende sebstgewählte Lernteams zuzulassen
  • eine Beziehungs- und Verantwortungskultur an den Schulen zu schaffen
  • Werte und Wertschätzung zu fördern
  • die Schularchitektur lernfreundlich auszugestalten
  • die Konzentrationsfähigkeit zu trainieren und zu pflegen
  • ein auf die Individualität des Kindes bezogenes Monitoring einzuführen
  • Ganztagesschulen einzuführen

 

Die bildungspolitischen Forderungen auf einer weiteren Ebene reichen von der Kindergartenpflicht über Bildungsstandards für den Abschluss des zehnten Schuljahres und das Abitur zur Schulautonomie und einer durch den Bund koordinierten Bildungspolitik der Länder. Dazu kann ich als Schweizer nur so viel sagen, dass Prechts Forderungen in manchen Teilen dem ähneln, was wir hierzulande kennen.

Mein Gesamtfazit fällt eindeutig positiv aus.

Nimmt man Prechts Buch im ersten Teil als das, was Wittgenstein „die Arbeit des Philosophen“ genannt hat: „ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck, nämlich der übersichtlichen Darstellung”, so lohnt die Lektüre. Denn im Abschnitt  Bildungskatastrophe werden die Mängel des deutschen Bildungssystems (die längst nicht nur auf Deutschland bezogen werden können) so sorgfältig und griffig aufgelistet, dass fast schon schmerzhaft deutlich wird: „So kann es nicht weiter gehen.“ Sollte zumindest nicht.

Natürlich ist eine solche Mängelerhebung provokativ, denn sie fordert alle, die diesem System angehören, heraus. Korrigieren? Reformieren? An- und Ausbauen? Neu machen? Was tun?

Es gibt selbstverständlich bereits Ansätze zu Antworten; Precht ist in bester Gesellschaft. Drei Beispiele von heute sollen als Illustration dessen dienen, was andere – eher von der Praxis her kommend – angedacht haben:

Das Anstossreferat von Lisa Rosa an einer Veranstaltung von heute: Selbstbestimmt lernen in der digitalen Welt. Quintessenz: Shift des Lernbegriffs vom Industrie- ins digitale Zeitalter: „Web 2.0 ist keine Technologie, sondern ein Verhalten. Das bedeutet, es handelt sich nicht um eine technologische Revolution, sondern um eine soziale Revolution.“ (Stephen Downes). „Lehrer werden Expeditionsleiter: den Dialograum zu erobern.“

Google Glasses: The Future of Educational Tech: Keine Bücher mehr, nur noch virtuelle Klassen(räume), individualisiertes Lernen

Ein Artikel von Jöran Muuss-Merholz: Lernen im Jahr 2029: Zwar wird es noch Schulen geben, aber „Lernen wird überall dort stattfinden, wo es eine Verbindung zum Netz gibt.“

Precht selber schlägt eine Bildungsrevolution vor, die er breit begründet (die konsultierte Literatur ist natürlich mehrheitlich solche, die seine Argumentation unterstützt resp. inspiriert. Die Autoren sind jedoch, soweit ich sehe, über jeden Verdacht erhaben.). Seinen Überlegungen folge ich gerne, umso lieber, als er bei mir offene Türen einrennt: die in diesem Post weiter oben genannten konkreten Vorschläge hatte ich in meinem Unterricht allesamt bereits umgesetzt; an Schweizer Gymnasien sind überdies Projektlernen, Unterrichten im Team, ein persönliches Projekt vor dem Abitur („Maturaarbeit“) Pflicht. Auch autonom geleitete Schulen sind in der Schweiz üblich. – Für mich persönlich (und für viele, viele ähnlich kritisch Denkende, vermute ich) also effektiv wenig Neues in diesem Buch, das jedoch – mit Ausnahme vielleicht des letzten beiden Kapitel – in Aufbau, Sprache und Reflexion durchaus zu überzeugen vermag. Manchmal habe ich sogar gestaunt, wie vorsichtig und umsichtig Precht argumentiert…. Also nix von digitaler oder anderer Demenz, nix Rundumschlag, nix Schaumschlägerei. Der Platz in den Talkshows wird ihm trotzdem sicher sein.

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