Anna, die Schule und der liebe Gott – Teil 3

Welchen Beruf erden unsere Kinder in zehn oder zwanzig Jahren ausüben? Was werden sie dafür können müssen? Welchen Stellenwert wird dieser Beruf in ihrem Leben haben? Wie viel Lebenszeit werden sie mit Arbeit verbringen und wie viel mit Freizeit? Und wie werden sie sich in einer Welt zurechtfinden, die um vieles anders sein wird als die unsere?“ (165)

Mit diesen Fragen steigt Precht ins erste Kapitel Bildung im 21. Jahrhundert des zweiten grossen Teils seines Buches ein, der überschrieben ist mit Die Bildungsrevolution.

Wie Prechts Anamnese ergeben hat (und er befindet sich dabei längst nicht alleine auf weiter Flur), leidet das deutsche Bildungssystem – so die Diagnose – an multiplen Krankheiten. Der zweite Teil wird folglich „Perspektiven für ein anderes Schulsystem aufzeigen“, also eine Therapie vorschlagen.

Im ersten Kapitel tastet sich der Autor an die Zielrichtung dieser Bildungsrevolution heran; den Erkenntnissen der Bestandesaufnahme folgend und ausgehend vom Generalbefund, dass „es so nicht weitergehen kann“, bedeutet das zum Beispiel:

Demnach wäre Bildung heute nicht mehr das Konzept, einen jeden Gymnasiasten in die Lage zu versetzen, aufgrund eines bewältigten Fachwissens alles studieren zu können. Es wäre vor allem dies: sich in der Welt und mit sich selber zurechtzufinden.“ (174) – „Orientierungswissen – die wahre Bildung des 21. Jahrhunderts.“ (180)

Interessant, dass sich Precht dabei auch auf die aktuelle Nummer 1 der Bildungskritiker Deutschlands beruft, den aus meiner Wahrnehmung am höchsten gehandelten Kongressredner der Nation: Gunter Dueck. Und natürlich hat er recht damit, wie ich finde, denn Dueck weist schon seit Jahren darauf hin, dass „es so nicht mehr geht“, dass es ganz andere Kompetenzen resp. Schlüsselqualifikationen braucht, um „zukunftsfähig“ zu werden, als die vom bisherigen Schulsystem angepeilten (sie finden sich im Buch auf S. 172):

“Ein neues Bildungssystem muss sich der Bildung ,,runder“ Persönlichkeiten widmen. Die gute frühkindliche Erziehung muss daher viel ernster genommen werden, weil in der frühen Zeit die Charakterbildung stattfindet. Kindergärten müssen zu blühenden Stätten des Werdens werden. Schulen müssen die neuen Internettechnologien nutzen, um ihre klassische Aufgabe der Faktenvermittlung so sehr viel effektiver zu gestalten, dass viel Zeit bleibt, die Persönlichkeit zu entwickeln. Arbeitgeber dürfen nicht mehr einfach die Übernahme fertiger Persönlichkeiten aus dem Bildungssystem erwarten, sie müssen sich immer stärker daran beteiligen, Mitarbeiter auf höhere Professionalitätsstandards zu entwickeln.
Das alles geschieht derzeit nicht.” (Dueck in einem im Oktober 2011 publizierten Artikel)

Am Beispiel von Wikipedia und Beyond Budgeting zeigt Precht, „welche neuen Formen des Umgangs mit Information die Wissensgesellschaft hervorbringt und welche Anforderungen sie dabei stellt.“ Eines der Kennzeichen der heutigen Wissensgesellschaft ist es, „dass sie das Lernen aus seinen institutionellen Verankerungen weitgehend befreit“ und es von der Anbindung an Schulsysteme löst. Stichworte: MOOCs, Online-Akademien, virtueller Hörsaal.

Fazit für mich: Auch dieses Kapitel ist sauber recherchiert. „unverdächtig“ und fernab einer „Pseudophilosophie“. Für mich ist das Buch (bis jetzt!) kein „sinnloses Ärgernis“, wie Peter Praschl seinen Artikel in der Welt betitelt – umso weniger, als Precht Fragen, die Praschl dort stellt, im Buch beantwortet. Zum Beispiel all diese: Warum ist dieser Patient, der erstens an sich selbst leidet, unter dem zweitens so viele leiden, die mit ihm in Berührung kommen, der drittens weiß, was ihm fehlt, und sich viertens schon lange nicht mehr in seiner eigenen Haut wohlfühlt, so uneinsichtig? Warum macht die Schule einfach weiter? Warum lässt sie sich alle möglichen Ausflüchte einfallen, die sie Schülern nie durchgehen lassen würde?

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